In der Diskussion um verstopfte Strassen und überfüllte Züge machte 20 Minuten diese Woche auf einen negativen Effekt des Pendelns aufmerksam. Täglich mehr als 50 Minuten zu pendeln
mache krank.
Die Schweiz ist ein Land von Pendlern. Ob zur Schule, zur Arbeit oder für Freizeitaktivitäten - der öffentliche Verkehr wird rege genutzt. Stolz sind wir auf unser gut ausgebautes Netz und
schütteln nur mit dem Kopf, wenn wir sehen, wie sehr man in anderen Ländern auf das Auto angewiesen ist. Natürlich hat die Medaille aber auch eine Kehrseite. Je besser ausgebaut und attraktiver
gestaltet der öffentliche Verkehr ist, desto häufiger und von mehr Personen wird er in Anspruch genommen. Dies hat zur Folge, dass man zu Stosszeiten in vielen Zügen eine Abonnement für einen
Stehplatz hat. Bahnhöfe sind überfüllt und es herrscht Hektik.
Neulinge im Bahnverker fallen sofort auf: Unsicherer Gang, grosse, fragende Augen, eingeschüchtert ob der zielstrebigen Haltung der anderen Reisenden. Der Pendler kennt seinen Weg. Auf diesem lässt er sich von nichts abbringen, ausser vielleicht vom morgendlichen Gang zur Kaffeebeschaffung, die aber ebenfalls gewohnheitsmässig abläuft. Er kennt die Ankunft- und Abfahrzeiten seiner Züge und Busse und weiss auch, wann sie von wo starten. Kaum eine Tätigkeit verkommt so schnell zur Routine wie pendeln. Beginnt man eine neue Arbeit, schreibt man sich in der Regel Zeiten und Geleise auf, um am ersten Tag ja nicht zu spät zu kommen. Nach dem zweiten Tag bleibt der Zettel meist unbenutzt in der Tasche - die Routine hat sich eingestellt und wird allenfalls noch von der SBB oder dem Wetter beeinflusst.
Der Artikel von 20 Minuten behauptet, dass mehr als 50 Minuten tägliches Pendeln krank mache. Erhöhter Blutdruck, negativer Stress und fehlende Zeit, die für Familie, Freunde und Hobbies verwendet werden kann, seien Gründe dafür. Sicherlich ist ein kurzer Arbeitsweg angenehmer, als lange reisen müssen. Doch wie realistisch ist es, unmittelbar an seinem Arbeitsort zu leben? Vor allem auch hinblicklich der Tatsache, dass die Wahl eines Arbeitsplatzes keine einmalige Entscheidung ist, sondern im Leben eines Arbeitnehmers das eine oder andere Mal wechselt. Wer alleine für den Weg zur und von der Arbeit schon Stunden benötigt, hat logischerweise weniger freie Zeit zur Verfügung. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man in dieser Situation die verfügbare Zeit aber besser und vor allem bewusster plant und nutzt, gerade weil sie kürzer und somit kostbarer ist. Pendeln lässt sich also durchaus auch mit einem funktionierenden und aktiven Sozialleben verbinden, erfordert aber etwas Übung und Disziplin.
"Stress" ist ein Zustand, der mittlerweile fast inflationär in unserer Alltagssprache gebraucht wird. "Stress" macht man sich jedoch meist selbst. Akzeptiert man, dass man als Pendler keinen Einfluss darauf hat, wie schnell ein Zug fährt, oder ob der Anschlussbus trotz Verspätung wartet, so ist die Reise schon viel angenehmer. Ob man nun ein Buch liest, oder einfach aus dem Fenster schaut - pendeln kann auch sehr entspannend sein. Wann hat man sonst Zeit und Musse, einfach dazusitzen und sich seinen Gedanken hinzugeben? Zuhause wohl eher nicht, da dort entweder soziale Verpflichtungen oder diverse Unterhaltungsmöglichkeiten auf einen warten. Man kann auch längere Arbeitswege sinnvoll nutzen und wenn auch nur indem man Schlaf nachholt.
Ob pendeln krank macht oder nicht ist meiner Meinung nach Einstellungssache. Verbringt man aber täglich drei und mehr Stunden im öffentlichen Verkehr und ist mit dieser Situation unzufrieden, sollte man nach Möglichkeiten suchen, etwas zu verändern. Eine Allgemeinlösung (wie auch für das Problem der an ihre Grenzen gelangenden ÖV-Kapazitäten) habe ich leider auch nicht.
Als ich als Kind auf der Autobahn im Stau stand und auch auf der Gegenseite nur Stillstand herrschte, fragte ich meine Eltern, wieso beiden Seiten verstopft seien. Das wäre der Feierabendverkehr antworteten sie. Ich stellte dann die kindlich naive Frage, warum die einen nicht einfach am Ort der anderen wohnen würden, so wären beide Strassen frei und die Leute würden viel Zeit sparen.
Vielleicht ist es nötig, dass die Schweiz sich vom Land der Pendler zum Land der Umzieher weiterentwickelt.
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